Kinskis Krankenakte

Beitragvon Semiramis » 22. Jul 2008, 12:50

Schicksale zwischen Genie und Wahnsinn
<span style='font-size:8pt;line-height:100%'>100 000 historische Krankenakten von Berliner Psychiatrie-Patienten im Landesarchiv einsehbar</span>

Berlin - Die Jahrzehnte alte Patientenakte des berühmten Schauspielers steckt in einem schlichten blauen, am Rand schon zerfledderten Umschlag aus Pappe. "Krankheitsgeschichte" und "Wittenauer Heilstätten" steht darauf und darunter der Name des Patienten: "Nakschinski, Klaus", besser bekannt unter dem Künstlernamen Klaus Kinski. Die Wittenauer Heilstätten sind das, was heute die Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik des Vivantes-Konzerns in Reinickendorf ist. Um 1880 hieß die Klinik noch "Städtische Irren- und Idioten-Anstalt zu Dalldorf".

Einer der berühmtesten Patienten dieser Psychiatrie-Klinik war Klaus Kinski. Seine Akte und die von etwa 100 000 anderen psychisch Kranken sind jetzt von Vivantes an das Landesarchiv Berlin übergeben worden und für jedermann einsehbar. Dokumentiert ist in den wertvollen historischen Akten die Zeit zwischen 1880 und 1960. Der Direktor des Landesarchivs Berlin, Professor Uwe Schaper, freut sich über eine der "wohl umfangreichsten und außergewöhnlichsten Übernahmen von Archivgut, die es in Berlin gegeben hat". In den 600 laufenden Metern Krankengeschichte steckten "zum Teil sehr traurige und bedrückende Einzelschicksale".

Wegen eines Tobsuchtsanfalls wurde der damals 26-jährige Kinski am 5. September 1950 in die Wittenauer Heilstätten eingewiesen. Kinski war zuvor bei seiner Ärztin Frau Dr. B. gewesen, hatte dort einen Wutanfall erlitten, die Kücheneinrichtung demoliert und die Ärztin gewürgt. Kinski wollte sich dann mit Tabletten umbringen. Er musste von der Polizei in einer "Autodroschke" abtransportiert werden. Von ihm gehe "Gemeingefährlichkeit" aus, heißt es in der Patientenakte, der ein Bericht des Polizeireviers beiliegt. Diagnose: "Geistesstörung und Erregungszustand". Der Betroffene freilich beurteilte seinen Gesundheitszustand anders. Er sei zu Unrecht in die Klinik gekommen, das sei "Amtsmissbrauch". Er sei nicht geisteskrank. Die Ärzte verordneten eine "sofortige Insulinbehandlung".

Das war zur damaligen Zeit eine häufige Therapieform in der Psychiatrie, aber nur bei Schizophrenie-Kranken oder bei manisch Depressiven, was Kinski vermutlich nicht war. Diese Patienten bekamen Insulindosen und fielen durch Absenken des Zuckerspiegels in einen komaähnlichen Zustand. "Das war eine sehr risikoreiche und sehr martialische Methode", urteilt Professor Peter Bräunig, Chefarzt der Klinik für Psychiatrie des Vivantes-Humboldt-Klinikums. Zudem fehlten wissenschaftliche Belege. Auch andere Therapien wirken heute mehr als zweifelhaft. So steckte man seelisch Kranke im 19. Jahrhundert in Badewannen, Zwangsjacken oder fixierte sie am Bett. Melancholiker wurden mit Opium behandelt, andere bekamen Elektroschocks. Syphiliskranke wurden mit Malaria-Erregern infiziert, weil man hoffte, damit die Geschlechtskrankheit zu kurieren. Noch schrecklicher war die Rolle der Psychiatrie im Dritten Reich. Zur Nazizeit sind an Kindern medizinische Experimente wie Impfversuche vorgenommen worden, sagt Christina Hertel. Die Vivantes-Psychotherapeutin kümmert sich um die Aufarbeitung der Akten.

Neben Klaus Kinskis finden sich weitere interessante Schicksale zwischen vergilbten Aktendeckeln, wie das von Edith Radtke, der Mutter des berühmten Filmregisseurs Rosa von Praunheim.

Zehn Jahre nach dem Tod eines Patienten dürfen die Akten eingesehen werden. Kinski starb 1992. Wie nah Genie und Wahnsinn beieinander liegen, zeigt einmal mehr dessen Geschichte. Drei Tage wurde der junge, arbeitslose Schauspieler in der Klinik behandelt. Kinski sei "ichbezogen" und eine "uneinsichtige Persönlichkeit", attestierten ihm die Psychiater. Nach seiner Entlassung machte er Karriere - vor allem im Killer- und Gruselgenre.
Doch verloren sind nur dessen Tage, den sein Weg durch dumpfe Dämmrung führt, der sich sättigt in des Tages Plage und des Lebens Flamme niemals spürt.
(Hermann Hesse)
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Beitragvon skyglow » 22. Jul 2008, 17:38

Aha, davon hatte die "Blöd" heute auch einen Bericht veröffentlicht. Da ich aber höchstens den Sportteil in der Mittagspause lese (ein Arbeitskollege hat die meistens dabei) und den Rest eben mal umblättere, kenne ich den Inhalt natürlich noch nicht. Wird sich aber dann gleich ändern.
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